Ich sehe was, was du nicht siehst... - Die Evolutionistin - Martina van der Veer

Ich sehe was, was du nicht siehst…

Ich sehe was, was du nicht siehst…

Down under – oder alles anders. Es ist faszinierend, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich auf Neues reagiere. Ohne meine Routinen und Altbekanntes, ist der Alltag plötzlich ein Abenteuer. Meine Haltung entscheidet jeden Moment aufs Neue, wie ich damit umgehe und mich letztlich damit fühle. Was ich wie wahrnehme, basiert auf meinen Erfahrungen.

Wir speichern alle Erfahrungen (unbewusst) ab und beziehen uns auf diese, um in Millisekunden richtig – also überlebenssichernd – reagieren zu können. In Australien bin ich immer wieder herausgefordert, bewusst im Moment zu sein – aufmerksam und präsent, denn – alles ist down under oder eben andersrum. Wie oft ich hier schon in die falsche Richtung gelaufen bin, in der 100prozentigen Überzeugung, es richtig zu machen… Übrigens etwas, das ich im Miteinander auch immer wieder erlebe und tue: Ohne jeden Zweifel in eine (Meinungs-) Richtung zu marschieren, in der festen Überzeugung, dass dies der (einzig) richtige Weg ist. Und auf dem bleibe ich dann auch… Kennst du das auch? In Meetings, Beratungsgesprächen oder in Beziehungen erlebe ich häufig, dass im “Wir” der eigene Pfad mit Vehemenz verteidigt wird, ohne einen Millimeter abzuweichen. “Ich habe Recht” ist die Mutter aller Konflikte und kein guter Navigator.

Wie soll so ein gemeinsamer Weg beschritten werden? Erinnern wir uns daran, dass wir nur Neues entdecken und erfahren können, wenn wir unbekannte Wege gehen. Dazu gehört dann auch, die Perspektive des anderen einzunehmen und ein Stück mitzugehen, also zu erforschen, was der andere sieht (denkt, fühlt, meint). Das heißt nicht, dass mir das gefallen muss, was ich hier entdecke.

In meinen Seminaren gibt es eine einfache und kraftvolle Übung, die unsere eingeschränkte Sicht sehr schnell deutlich macht: “Ich sehe was, was du nicht siehst…”

Stelle dir vor, dein Kunde/Chef/Partner steht vor dir. Dein Blick (deine Perspektive) geht in die einen Richtung, die deines Gegenübers in die entgegengesetzte Richtung. Das, was du jetzt siehst – und ich meine das im übertragenen Sinne – ist deine Weltsicht. Du siehst, was du siehst und da gibt es keinen Zweifel. Warum auch? Du nimmst wahr und für wahr – warum sollte es auch anders sein? Du hast Recht in und mit dem, was du siehst. Dein Gegenüber sieht die andere Seite und ihm geht es genauso. Es gibt keinen Spielraum, denn es gibt keinen Zweifel an dem, was wir wahrnehmen.

Sydney Postits 
ActsofKindness MichaelLandy

Prüfe dich selbst: Was siehst du, wenn du das Bild betrachtest? Je nach deinem Alltag, deinen Prägungen und deinen Erfahrungen, wirst du das Bild sofort in einen Kontext stellen, der für dich Sinn macht. Für alle, die mit New Work und den dazugehörigen Methoden zu haben, wird es eine schnelle Verortung geben.

Sydney Postits ActsofKindness MichaelLandy Corner

Aber: Es handelt sich um eine Installation des britischen Künstlers Michael Landy in der Art Gallery of New South Wales in Sydney. Sein interaktives Kunstwerk „Acts of Kindness“ konzentriert sich auf alltägliche Gesten des Mitgefühls und der Großzügigkeit, die in Sydney erlebt werden können. Neue Perspektiven kommen hinzu und so entsteht eine neue (oder andere) Geschichte. Ich finde auch den inhaltlichen Perspektivenwechsel wunderbar passend: ein auf den ersten Blick vermuteter Arbeitskontext stellt sich als Kunstwerk heraus, das durch einen kleinen „Act of Kindness“ ein verbindendes Miteinander schafft.

Sydney Postits ActsofKindness MichaelLandy White Wall

Auch in unseren Dialogen nehmen wir meistens nur einen Ausschnitt wahr, der uns reicht, um eine Meinung zu haben und unsere Sicht der Dinge verteidigen zu wollen. Das Spiel, das wir als Kinder gespielt haben, birgt die Lösung: Wir fragen und erforschen, was der andere wohl gesehen hat. Wir lassen uns darauf ein und wechseln die Perspektive durch unsere Fragen.

Das ist letztlich auch der Schlüssel für meine Übung im Seminar. Normalerweise versuchen wir zunächst, den anderen “umzudrehen” – also ihn oder sie dazu zu bewegen, sich unsere Seite der Dinge anzusehen. Die übliche Reaktion ist, dass wir unsere Sicht der Dinge vermitteln, überzeugende Argumente wählen und (davon bin ich normalerweise ja ein großer Fan), dem anderen seinen Nutzen übersetzen, der aus unserem “Weg” entsteht. Was wir in den meisten Fällen vergessen, ist die einfachste und beste Möglichkeit: Zusammen in eine Richtung zu schauen. Wir gehen den Schritt auf den anderen zu und nehmen seine Persepektive zuerst ein. Ein echter Schulterschluss, der signalisiert: “Ich bin interessiert an dir und deiner Sicht der Dinge. Ich möchte verstehen, was du siehst und was dich bewegt.”

Das ist eine der Lösungen, die das Miteinander einfach und schnell verändert. Dazu brauche ich keine neuen Formate oder ein Training in Agilität, sondern eine Erweiterung meines eigenen Repertoires. Wie das im Alltag gelingt? Wir fragen nach. Wir erforschen die Sicht unserer Gesprächspartners mit einer Haltung aus Offenheit, Neugier und Für-Sorge. Für Heartsetter (Herzenhaltung) ist das eine Selbstverständichkeit.

In Down Under kann ich diese Haltung der “Umkehrung” sprichwörtlich trainieren: Inzwischen gehe ich einfach in die andere Richtung, da mein innerer Kompass scheinbar immer noch 180 Grad konträr eingestellt ist. Hier kann ich nicht stur meiner Gewohnheit folgen und “ich habe Recht” spielen. Wenn ich das tue, muss ich umkehren oder Umwege in Kauf nehmen.

Offenheit und Staunen sind im Moment meine besten Wegweiser. Bei meinem Besuch im “McIver Women’s Bath” in Coogee wurde mir gesagt, ich solle auf die “Blue Bottle” im Pool achten. Aha, dachte ich, da gibt es eine blaue Plastikflasche im Meeres-Pool. Warum auch immer ich darauf achten sollte… Ich habe so gelacht, als mir erklärt wurde, dass es sich um eine Qualle handelt, deren nähere Bekanntschaft schmerzhaft ist.

BlueBottle Caution Beachside