Toxic Positivity: Ehrlich statt "good vibes only"! - Die Evolutionistin - Martina van der Veer

Toxic Positivity: Ehrlich statt “good vibes only”!

Toxic Positivity: Ehrlich statt “good vibes only”!

Es ist eine wichtige Qualität und großartige Eigenschaft, in Situationen und Umständen das Positive zu sehen. Ich bin ein großer Fan davon und unterstütze andere gerne in diesem Perspektivwechsel. Allerdings fällt mir immer mehr auf, dass diese Haltung zu einem “Muss” oder Optimismus-Zwang zu werden scheint.

Wir haben auf einmal keine Probleme mehr, sondern sollen nur noch Herausforderungen haben. Aha… In dem Moment, in dem mir von Außen fast zwanghaft gesagt wird, ich solle doch meine Situation jetzt mal positiv oder das Gute darin sehen, fühle ich mich in meinem Gefühl nicht ernst bzw. angenommen. “Toxic Positivity” ist ein schöner Begriff für dieses Phänomen.

Irgendwo auf dem Weg hin zu mehr Selbstoptimierung haben wir scheinbar übersehen, dass Gefühle wie Trauer, Schmerz, Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit usw. ebenfalls ihre Berechtigung haben. Auch sie möchten ausgekostet oder zumindest betrachtet und gewürdigt werden. Wenn wir zu schnell die rosarote Brille der neuen Möglichkeiten aufsetzen, werden wir uns selbst nicht gerecht. Dieses “positiv denken müssen” an falscher Stelle halte ich für ein neues Korsett. Und für eine Verführung des inneren Perfektionisten (Security Guard), der uns so schon wieder suggeriert, wir seien (noch) nicht gut genug. Die Maßgabe und Bewertung ist dann: “Du darfst das jetzt nicht so empfinden, du musst das Positive sehen und sofort lösungsorientiert sein!“ Hurra, ein Problem, ach nein, es heißt ja Herausforderung… Der Beitrag von Carlotta Korol “Wie viel Posi­ti­vi­tät ist zu viel?” bringt es super auf den Punkt.

Während ich mich von über 20 Jahren Wohnen und Leben in Köln löste, gab es viele wirklich herzlich und gut gemeinte Ratschläge, diesen großen Wechsel positiv zu sehen. Das habe ich ja auch, sonst hätte ich den Schritt doch nicht gemacht. Und ich fand es anstrengend, habe mich fast schon genötigt gefühlt, meine Gefühle von Abschiedsschmerz und Verlustangst zu verdrängen. Diese gab es aber ebenso. Der Satz: “Es darf so sein” hat mir sehr geholfen, meine (ungeliebten) Gefühle anzunehmen, sie “zurück zu lieben” und so ehrlich mit mir zu sein. Wenn ich mich wirklich selbst führe – und nicht mein Ego – nehme ich auch dies in Eigentum (to own it).

Bitte verstehe mich richtig: Ich finde es wesentlich in unserer Selbstführung, dass wir den Blick auf das Potenzial und die Lernchance richten, die sich aus einem Problem ergeben. Aber zum richtigen Zeitpunkt! Erst einmal geht es doch darum wahrzunehmen, was wir gerade fühlen und dann können wir erforschen, warum wir es fühlen. Danach erfolgt der Schritt, nach Lösungen und neuen Möglichkeiten zu suchen. Für mich gehört zu wahrer Selbstbestimmtheit, mir meiner Gefühle in all ihren Facetten bewusst zu werden und sie zu akzeptieren. Sie gehören ebenfalls zu mir und dürfen sein. Aber: Ich verharre nicht in ihnen oder missbrauche sie als Entschuldigung, um nicht in Bewegung kommen zu müssen oder meine Komfortzone nicht zu verlassen.